Pinke
Scherben
Die Kälte brannte auf Ellas Haut und ihr
Atem stieg in weißen Nebelwölkchen in den grau
verhangenen Himmel. Ihre Schuhe hallten laut auf dem Betonfußboden der Straße
und ihr Mut schwand, mit jedem Schritt, den sie tat. Hatte sie ehrlich geglaubt dass sie das hier
alleine schaffen könnte? Sie wusste, dass sie Jemandem hätte Bescheid sagen müssen,
aber aus einem Impuls heraus verschwieg sie sogar Alex diese Entscheidung. Sie
war schuld an all dem und sie wusste, dass Alex versuchen würde, sie zu
schützen. Doch das konnte sie nicht zulassen. Sie hatte eine Entscheidung
getroffen und nun musste sie mit den Konsequenzen leben. Ellas Mut war nun
komplett verloren gegangen. Genauso wie ihre Gelassenheit. Sie rang mit sich.
Sollte sie reingehen? Oder sollte sie zu Alex zurückgehen und vergessen was
passiert war? ...Nein...Das konnte Ella nicht. In dieser Fabrik, die groß und
bedrohlich vor ihr aufragte, könnte ihre Chance auf eine Zukunft ohne All das
liegen. Und das war doch was sie wollte oder? Noch bevor sie eine weitere
Sekunde zögern konnte, schritt sie, der Übelkeit in ihrem Magen zum Trotz, auf
die Stufen, die zu der verlassenen Fabrik führten. Die schwere Stahltür fiel laut
hinter ihr ins Schloss. Das Licht der Glühbirne, die an der Decke hing,
flackerte. Kälte kroch durch ihre Kleider, bis in ihr Innerstes. Würde es nicht
um Alex gehen, wäre sie schon längst umgekehrt. Doch das würde alles nur noch
schlimmer machen. Ella atmete tief ein, um ihre Gedanken und ihre zitternden
Hände unter Kontrolle zu bekommen. Der Gang, auf den sie nun schritt, war nur
teilweise beleuchtet und bot einen erschreckenden Anblick. Sie hörte das Summen
der Glühbirnen. Doch nicht nur das. Als Ella ihre Schritte verlangsamte und
näher an die Wand trat, vernahm sie das leise rattern von Maschinen. Dann
stimmt es also, was sie vermutet hatte. Die Fabrik war nicht stillgelegt
worden. Sie legte die Hände flach auf die Wand und lauschte angestrengt. Die
Wand vibrierte unter ihren Handflächen und sie hörte Stimmen, die miteinander
sprachen. Sie fluchte leise. Auf Wiedersehen Vorsätze. Sie hatte Angst, die
Anderen würden sie bemerken und so flüchtete sie über den dunklen Korridor
zurück zum Eingang der Fabrik. Sie griff nach der Tür. Doch jemand hatte sie
abgeschlossen. Ella wurde übel. Das bedeutete sie wussten, dass sie hier war.
Sie drehte sich um und suchte mit ihren
Augen die Umgebung ab. Kahler Beton. Staub und Müll. Doch niemand, der sie
beobachtete. Ella ließ den Türgriff los und sprintete durch den Gang rechts von
ihr, auf die Seitentür zu. Doch auch die war verschlossen. Ella traten Tränen
der Verzweiflung in die Augen. Wie konnte sie nur so dumm sein, abends alleine
in eine verlassene Fabrik zu gehen. Sie wusste die Antwort. Sie wollte Alex
helfen. Aber sich wegschleichen und einsperren zu lassen half nicht besonders
weiter. Die Fensterscheiben, an denen sie vorbeischlich, waren zerbrochen und
gaben den Blick auf die Straße, über die sie gekommen war, frei. Sie blieb wie
angewurzelt stehen. Die Straße war leer. Hatte sie nicht ihren Golf dort
geparkt? Ella stieg auf eine Holzkiste unter dem Fenster, um auf die ganze
Straße im Blick zu haben, und wäre fast wieder herunter gekippt. Sie war sich
ganz sicher, das Auto dort abgestellt zu haben, Alzheimer war definitiv nicht
eines ihrer Probleme. Ihr Auto war weg. Ella stieg von der Holzkiste und suchte
in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel, doch auch er war nicht zu finden. Was
wurde hier gespielt? Das konnte doch nicht sein. Hatte sie die Schlüssel etwa
verloren? Aber wo war dann ihr Auto? Ella versuchte das Zittern zu stoppen, das
bereits von ihrem gesamten Körper Besitz ergriffen hatte. Sie fummelte nervös
an der Kette herum, die um ihren Hals hing und versuchte sich mit positiven
Gedanken zu beruhigen. Ella umfasste den Anhänger fester und trat in einen grün
gefliesten Raum, der als Durchgang diente. Sie war schon fast an der Tür, als
sie Stimmen hörte. Jemand redete. ,, Sie muss hier irgendwo sein. Abhauen kann
sie nicht !`` Jemand kicherte. ,, Sie ist selbst Schuld ! Es war ihre
Entscheidung Rick in den Knast zu bringen, jetzt muss sie dafür bezahlen! ``
Ellas verschluckte sich fast. ,, Sie hat es wegen Alex getan. Das naive,
verliebte Ding. Die rosarote Brille hat sie blind gemacht! Sie konnte nicht
klar denken! ``. Ella holte tief Luft. Vielleicht würde sie ja doch hier rauskommen.
Es knallte laut. Einer von ihnen hatte etwas mit voller Wucht zu Boden
gerissen, oder jemanden. ,, Es interessiert mich nicht ob sie keine Ahnung
hatte. Sie wusste was auf dem Spiel stand und trotzdem hat sie gegen Rick und
mich ausgesagt. Ich hatte Glück, dass sie mir nichts nachweisen konnten, sonst
würde ich jetzt auch mein ganzes Leben sitzen.`` Ellas Beine gaben unter ihr
nach und sie fiel auf die Knie. Tränen tropften von ihren Wangen auf ihr
T-Shirt. ,, Ich will, das sie Bezahlt !! `` Schrie er. ,, Sie soll leiden,
genauso, wie wir leiden mussten, weil sie uns die verdammte Polizei auf den
Hals gehetzt hat! `` Sie hatte es damals
für richtig gehalten, zur Polizei zu gehen doch Alex war nicht gerade
begeistert gewesen und als einer der Angeklagten in dem danach folgenden
Prozess freigesprochen wurde, war ihnen klar gewesen, dass sie nun in der
Klemme steckten. Seitdem hatte Sie regelmäßig Drohbriefe erhalten, die sich
anhörten, als wären sie einem Buch über Foltermethoden entsprungen. Wäre sie
doch nie auf die Party von Alex Bruder gegangen. Noch etwas wurde brutal auf
die Fliesen geschleudert. Ella hatte nun begriffen, dass sie nicht einfach so
würde abhauen können. Sie riss sich zusammen und versuchte mühsam wieder auf
die Beine zu kommen. Sie war wacklig, aber sie stand gerade. Langsam setzte sie
einen Fuß nach dem anderen zurück, um so schnell wie möglich zu einem weit
entfernten Fenster zu kommen. Sie wusste, dass wenn sie es zerschlagen würde,
sie es hören konnten. Doch je weiter weg, desto kleiner die Chance, dass sie sie
einholen würden. Ella rannte so leise sie konnte die schier endlosen Gänge
entlang. Doch sie achtete nicht darauf, wohin sie lief. Sie trat auf ein
Metallgitter, das bei jedem Schritt laut schepperte. Als sie es merkte war es schon
zu spät. ,, Lauft ! sie darf nicht abhauen! ``Schrie jemand, nicht weit von ihr
entfernt. Ella wurde hysterisch und suchte verzweifelt nach einem Ausweg,
obwohl sie wusste, dass es keinen gab, doch sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie rüttelte an Türen, doch keine von ihnen ließ sich öffnen. Sie hörte, wie
sie näher kamen und versteckte sich schnell hinter ein paar Kisten, die an der
Wand standen. Sie kamen in den Raum und endlich konnte sie die Männer sehen,
die sie unter dem Vorwand, die Sache ruhig zu klären bevor Alex etwas passiert,
hierher gelockt hatten. Es waren vier. Zwei von ihnen kannte sie nicht, doch
der Mann in der Mitte ließ ihr den Atem stocken. Sie hatte es zwar schon
vermutet doch nun hatte sie Gewissheit. Vale. Er war derjenige, den sie fast
ins Gefängnis gebracht hätte. Die Narbe, die sich von seinem rechten Auge bis
zum Kinn zog, hatte der Polizei geholfen, ihn zu identifizieren. Sie erinnerte
sich noch genau an den Tag, an dem sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er und
Rick waren plötzlich auf der Party von Alex Bruder aufgetaucht und hatten ihn
danach wegen Geldschulden eine Szene gemacht. Ihn alleine und halbtot in einer dreckigen Gasse liegen lassen. Sie
war die Einzige, die es beobachtet hatte. Und sie war sofort zur Polizei
gelaufen. Sie hatte sich nur gewundert, dass Alex sie davon abhalten wollte,
obwohl es sein Bruder war, der wenig später im Krankenhaus starb. Vale´s
Gesicht war angespannt, lockerte sich jedoch deutlich, als der Mann, den Ella
bisher nicht hatte sehen können, neben ihn trat. Ella zuckte zusammen und ihr
Atem gefror in ihren Lungen zu Eis, das sich bis tief in ihr Innerstes bohrte.
Alex. Wie konnte das sein? War er ihr gefolgt, um sie zu retten? Aber Vale
behandelte ihn wie einen Freund. Ella traute ihren Augen nicht als die Beiden
sich angrinsten. ,, Es dauert zu lange, sie zu suchen.`` sagte er zu Alex und
der antwortete mit einen verschlagenen Lächeln. ,, Kein Problem! `` sagte er
und zog sein Handy aus der Tasche. Sie war viel zu verwirrt um zu reagieren. Ihre
Gefühle und Gedanken fuhren Achterbahn. Sie war überrascht, verletzt und sie
wurde wütend. Ella war nur für ihn in diese verfluchte Fabrik gekommen. Und er
hatte es gewusst. Er hatte die ganze Zeit alles
gewusst und sie nach Strich und Faden belogen. Alex hielt sich das Handy
ans Ohr und erst jetzt begriff sie, was er vorhatte, doch es war zu spät. Ihr
Handy trällerte laut die Melodie von Tom&Jerry. Ella versuchte verzweifelt
ihr Handy auszuschalten, doch sie waren zu nah. Vale und Alex schauten sich an
und lächelten. Die beiden Männer, die sie nicht kannte, kamen auf sie zu und
zogen sie mit Gewalt von den Kisten weg. Ella versuchte sich zu wehren und
schlug um sich, traf jedoch nur die Luft. Die Männer hielten sie fest und Alex
trat auf sie zu. ,, Du hättest das mit meinem Bruder nicht sehen sollen. Es
lief doch so gut mit uns, aber dann hattest du diese grandiose Idee zur Polizei
zu gehen. Wie dumm kann man eigentlich sein? War dir etwa nicht klar, dass du
dadurch noch viel mehr Probleme bekommen würdest? `` fragte er. Sie starrte ihn
an. Viel zu entsetzt um reden zu können. ,, Du steckst da mit drin?´´ Fragte
sie wütend. Sie drückte ihre Hände zusammen, bis die Fingerknöchel weiß wurden.
Der Schmerz lenkte sie von dem stechenden Verrat ab. Alex legte die Hände an
ihre Wangen und küsste sie auf die Stirn. Ella versuchte sich seinen Griff zu
entziehen doch Alex ließ sie los und schenkte ihr einen Blick, der ihren
Verstand in die Knie zwang. Das wars, dachte Ella. Die rosarote Brille, hatte
sie wirklich blind gemacht. Blind für das offensichtliche. Sie war so naiv
gewesen. Doch nun war die Scheibe, die alles in ein kitschiges Pink getaucht
hatte, zerbrochen. Und die Scherben würden ihr Untergang sein. Sie hob den Blick
und schaute flehend in Alex blaue Augen,
die ihr so vertraut waren. Das kann doch nicht alles gewesen sein oder?
(Joelle Hascher)
(Joelle Hascher)
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